Ulrich Seeger – ein Bauernbub erhebt Zwerenberg zum kirchenmusikalischen Zentrum

Artikel von Armin Schmid im Jubiläumsband "Zwerenberger Jubiläen 2011", Neuweiler-Zwerenberg 2011

 

Als im Jahr 1977 der 15-jährige Schüler Ulrich Seeger aus Zwerenberg die Leitung des Zwerenberger Kirchenchors übernahm, konnte niemand erahnen, welch gravierenden Einschnitt dies für das kulturelle Leben des kleinen Schwarzwaldortes Zwerenberg bedeuten würde.

Im Jahr 1961 wurde Ulrich Seeger als jüngstes von fünf Kindern in ein ganz und gar landwirtschaftlich geprägtes Umfeld hineingeboren. Er wuchs zusammen mit seinen Geschwistern auf dem Hof seiner Eltern auf und erlebte hautnah den gewöhnlichen Alltag eines Zwerenberger Bauernbubs. Neben seiner Tätigkeit als Landwirt war sein Vater als Mitglied des Kirchenchors und Posaunenchors jedoch in besonderem Maße musikalisch aktiv, und überhaupt wurde bei den Seegers oft und viel gesungen, so dass der junge Ulrich bereits im eigenen Elternhaus vielfältige musikalische, insbesondere kirchenmusikalische Anregungen erhielt. Die weiteren Grundlagen für den späteren musikalischen Lebensweg Ulrich Seegers wurden dann zum einen im Klavierunterricht gelegt, den er in den ersten Jahren von Elisabeth Maurer erhielt, die damals auch Leiterin des Kirchenchors war. Später wechselte er als Orgelschüler zum Kantorenehepaar Rose und Bernhard Reich nach Calw. Womöglich noch entscheidender waren aber die Impulse, die Ulrich Seeger als Schüler des Christophorus-Gymnasiums in Altensteig erhielt. Damals noch in freier Trägerschaft des Christophorus-Jugendwerks war dieses Gymnasium mit angegliedertem Internat weithin bekannt durch seine intensive musikalische Ausrichtung insbesondere im Bereich der Chormusik. Dies war in erster Linie ein Verdienst von KMD Jürg Wieber, der seinen „Schulchor“ durch intensive Stimmbildung und musikalische Arbeit zu einem künstlerisch vollwertigen Ensemble formte, das auf herausragendem Niveau mit zahlreichen Konzerten und Konzertreisen den Namen der Christophorus-Kantorei weit über die Heimatregion hinaus bekannt machte. Bereits hier lernten Ulrich Seeger und seine Mitschüler eine Vielzahl von Chormusikwerken kennen.

Bei dem überdurchschnittlich begabten Sänger und allgemein musikinteressierten Schüler, der auch schon bald erste eigene Kompositionsversuche startete, fielen alle diese Anregungen auf fruchtbaren Boden, so dass früh der Wille wuchs, selbst musikalisch gestaltend tätig zu werden. Diese Möglichkeit bot sich mit der Übernahme der Leitung des Zwerenberger Kirchenchors im Jahr 1977. Bereits damals muss Ulrich Seeger ein ungewöhnlicher musikalischer Gestaltungsdrang geprägt haben, so dass seine Heimatgemeinde dem gerade 15-Jährigen die Leitung des Kirchenchores anvertraute.

Schnell erwies sich aber, dass Ulrich Seeger nach Höherem strebte als lediglich die Kirchenchortradition seiner Heimatgemeinde in der gewohnten Weise fortzuführen. Und so trat er im Jahr 1979 erstmals selbstbewusst außerhalb des gottesdienstlichen Rahmens in einem eigenen selbst konzipierten, organisierten und geleiteten Konzert mit seinem erweiterten Kirchenchor an das Licht der Öffentlichkeit. Dies war die Geburtsstunde der „Zwerenberger Kirchenkonzerte“ und dieses war in mehrfacher Hinsicht symptomatisch: Zum einen organisierte sich Ulrich Seeger für dieses Konzert selbstständig die Unterstützung mehrerer ebenfalls musikbegeisterter Mitschüler als Mitsänger im Chor sowie ein kleines Orchester. Es sollte fortan ein prägendes Merkmal der Konzerte Ulrich Seegers bleiben, dass er beständig erfolgreich versuchte, immer mehr musikalische Freunde zum gemeinsamen Singen und Musizieren in seinen Heimatort einzuladen, so dass von Anbeginn an ein Gutteil der Ausführenden gar nicht aus Zwerenberg selbst stammte. Zum anderen, und noch viel nachdrücklicher in die Zukunft weisend, war aber die Programmgestaltung dieses Konzerts. Denn nichts weniger als die Bach-Kantate „Christ lag in Todesbanden“, eine der musikalisch anspruchsvollsten wie tiefgründigsten Kantaten-Kompositionen Bachs hatte sich der junge, gerade einmal 17 Jahre alte Nachwuchskünstler als Hauptwerk ausgewählt. Es blieb jedoch nicht bei diesem einen erfolgreichen Konzertversuch eines eigentlich ganz gewöhnlichen Kirchenchores auf dem Land. Vielmehr führte Ulrich Seeger auch in den Folgejahren zu den kirchenmusikalischen Hoch-Zeiten Ostern und Advent mehrfach festliche Konzerte auf, bei denen zumeist Kantaten J. S. Bachs im Mittelpunkt der Programme standen – immer wieder außerordentlich anspruchsvoll für einen ländlichen Kirchenchor und ein deutlicher Hinweis auf den besonderen musikalischen Ehrgeiz des Jungmusikers Ulrich Seeger.

Fast zwangsläufig führte diese Entwicklung zum Berufswunsch, als Kirchenmusiker tätig zu werden. Ab 1982 studierte Ulrich Seeger Kirchenmusik in Heidelberg. Die nun dauerhafte räumliche Entfernung von der Heimat und der gleichzeitige Wunsch, die so hoffnungsvoll gewachsenen musikalischen Strukturen der letzten Jahre fortzusetzen, führte im Jahr 1983 zu dem Entschluss, ein eigenes Vokalensemble zu gründen. Bezeichnend und prägend war, dass es Ulrich Seeger wichtig war, mit diesem Ensemble die emotionale und räumliche Verbundenheit mit seinem Heimatort Zwerenberg beizubehalten. Und so gab er seinem neuen, nun „eigenen“ Chor nicht nur den Namen „Zwerenberger Vokalensemble“, sondern Zwerenberg blieb auch von Beginn an als Proben- und Konzertort das Zentrum der gemeinsamen musikalischen Aktivitäten. Eine überaus glückliche Fügung hatte ergeben, dass Ulrich Seeger ausgerechnet in seinem kleinen Heimatort einen Kirchenbau „bereitgestellt“ fand, der in seinen ungewöhnlich großen Proportionen die idealen architektonischen Voraussetzungen bot, um den immer größer dimensionierten Projekten Ulrich Seegers problemlos Raum zu geben. In welcher anderen Dorfkirche des erweiterten Umkreises wäre es möglich gewesen, einmal die Sänger- und Orchestermassen und die Klangfluten eines „Elias“ oder eines „Deutschen Requiems“ aufzunehmen? Auch bot die Erweiterung des Gemeindehauses mit großem Saal und großer Küche die ideale Voraussetzung, um Zwerenberg dauerhaft und bis heute als Probenort für noch so große Sängerscharen zu etablieren.

Ebenso rasant wie die persönliche musikalische Entwicklung Ulrich Seegers wuchsen die Projekte des Zwerenberger Vokalensembles. Anfangs noch in eher kammermusikalischen Dimensionen gehalten wagte sich Ulrich Seeger bald an Chorwerke mit immer größerer Orchester- und Solistenbesetzung. Eine Entwicklung, die über Psalmkantaten Mendelssohn Bartholdys, der „Nelson-Messe“ von Haydn und Mozarts „Requiem“ im Jahr 1989 zur Aufführung der „H-Moll Messe“ von J. S. Bach als Festkonzert zum 10-jährigen Bestehen der Zwerenberger Kirchenkonzerte führte. Daneben war es aber immer ein Bestreben Ulrich Seegers, vorzugsweise auch unbekannte und selten aufgeführte Werke zur Aufführung zu bringen. Darunter zählten nicht nur immer wieder eigene Kompositionen, sondern auch solche Exoten wie das Requiem von Bruckner oder die Messe von Stravinsky. Mit der Gründung des Fördervereins „Zwerenberger Kirchenkonzerte“ im Jahr 1989 wurde das organisatorische und finanzielle Fundament für die weitere Entwicklung des Zwerenberger Vokalensembles und der Konzertreihe Zwerenberger Kirchenkonzerte gelegt. Die Aufführungen großer romantischer und barocker Oratorien wurden stilprägend für die kommenden zehn Jahre, während sich in der dritten Dekade der Zwerenberger Kirchenkonzerte die Tendenz schwerpunktmäßig zur mehrchörigen frühbarocken Chorliteratur in historischer Aufführungspraxis entwickelte.

Seit dem ersten Konzert im Jahr 1979 hat Ulrich Seeger in annähernd 100 Konzertprojekten in seinem kleinen Heimatort Zwerenberg eine ungeheure, beinahe kaleidoskopische Fülle an Kirchenmusikwerken zur Aufführung gebracht, die jedem kulturellen Zentrum zur Ehre gereichen würde. Damit hat er seinen Heimatort in den Rang eines überregional bedeutenden kirchenmusikalischen Zentrums erhoben. Die Palette reicht dabei vom barocken Solisten-Konzert über unbegleitete A-cappella-Chormusik aus allen musikgeschichtlichen Epochen der zurückliegenden 500 Jahre und von herausragenden Beispielen frühbarocker Mehrchörigkeit bis hin zum großen, sinfonisch besetzten Oratorium des 19. und 20. Jahrhunderts. Nicht zuletzt standen natürlich in regelmäßigen Abständen Kantaten und Oratorien J. S. Bachs auf dem Programm. Alle diese Aufführungen waren geprägt von einem hohen musikalischen Niveau und dem großen theologischen Ernst, die aufgeführten Werke als intensive musikalische Verkündigung des Wortes Gottes zu verstehen und zu interpretieren. Eben dieser Umstand verleiht den Aufführungen des Zwerenberger Vokalensembles immer wieder eine besondere Faszination. Nicht von ungefähr versteht sich das Zwerenberger Vokalensemble trotz seiner primären Existenz als Konzertchor immer auch als ein lebendiges Mitglied der Zwerenberger Kirchengemeinde, das zwar nur während der Projektphasen, dann aber nachdrücklich durch musikalische Mitwirkung im Gottesdienst seine dankbare Verbundenheit mit der Ev. Kirchengemeinde Zwerenberg unterstreicht.

Ulrich Seeger, der sein kirchenmusikalisches Studium in den Jahren 1989 bis 1992 in Berlin abschloss, wirkt seit nunmehr 16 Jahren als Kantor an der Ev. Stadtkirche in Friedberg/Hessen. Hier lässt er die Erfahrungen aus seiner künstlerischen Tätigkeit als Leiter des Zwerenberger Vokalensembles in seine tägliche kirchenmusikalische Arbeit einfließen, ebenso aber auch die vielfältigen Impulse, die er durch KMD Jürg Wieber in Altensteig, LKMD Prof. Rolf Schweizer in Pforzheim, Wolfgang Seeliger in Darmstadt oder auch KMD Prof. Martin Behrmann in Berlin erhalten hat. Eine intensive Kinder- und Jugendchorarbeit ist ihm hierbei ein besonderes Anliegen. Viele seiner getreuesten musikalischen Friedberger Freunde sind auch fester Bestandteil des Zwerenberger Vokalensembles, so dass es sowohl auf emotionaler wie auf persönlicher Ebene eine ständige starke Verbindung zur Heimat im Nordschwarzwald gibt. Wie für alle Sänger und Musiker ist es auch für Ulrich Seeger selbst immer wieder ein besonderes Erlebnis, zum Proben und Konzertieren in seinen Heimatort zu reisen – für die musikalischen Freunde ist es die wunderbare Möglichkeit, die intensive Auseinandersetzung mit großer Musik in urlaubsähnlicher Umgebung zu erleben, für Ulrich Seeger ist es jedes Mal eine Rückkehr zu seinen persönlichen und musikalischen Wurzeln. Ungeheuer reich und vielfältig ist das, was er seiner Heimat in den zu-rückliegenden Jahren geschenkt hat. Nun feiert Ulrich Seeger in diesem Jahr seinen 50. Geburtstag und es ist sowohl ihm als auch der Gemeinde Zwerenberg zu wünschen, dass der Konzertreihe der Zwerenberger Kirchenkonzerte noch eine lange Fortsetzung beschert ist, auf dass der kleine Schwarzwaldort Zwerenberg noch für lange Zeit ein Synonym für kirchenmusikalische Hochkultur bleiben möge.